Ich bin Autorin der beiden Romane „Sitzen vier Polen im Auto“ (2012, Ullstein) und „Minigolf Paradiso“ (2016, Rowohlt) und arbeite gerade an meinem dritten Buch. Seit 2013 produziere ich außerdem den „In trockenen Büchern“-Podcast , in dem ich mich in je 20 Minuten unterhaltsam mit einem Sachbuch auseinandersetze. Um mir das Bücherschreiben leisten zu können, arbeite ich in einer kleinen Buchhandlung.
Ich habe erst relativ spät, mit 25, angefangen zu studieren. Davor arbeitete ich in den Medien; beim Musikfernsehen und im Popjournalismus. In Marburg schrieb ich mich für Soziologie ein, parallel dazu studierte ich englische und amerikanische Literaturwissenschaft. Damals gab es noch Diplom- und Magisterstudiengänge und ein Doppelstudium war zwar anstrengend, aber machbar. Nach drei Semestern habe ich mich auf Soziologie festgelegt.
Bis zur Anmeldung meiner Diplomarbeit war ich mir absolut sicher, dass ich eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen würde. Ich hatte ein Stipendium, arbeitete bereits als Tutorin am Lehrstuhl und hatte an einer Veröffentlichung mitgewirkt, was heutzutage ja alles keine Garantie für einen sicheren Job ist, mich aber doch in meinen Ambitionen bestärkte. Dann bekam ich - ziemlich überraschend! - einen Buchvertrag und musste mich entscheiden: akademische Karriere oder das Risiko einer kreativen Selbständigkeit.
Die Entscheidung für letzteres wurde begünstigt durch die moralische Unterstützung meiner Professoren und die eigene wachsende Unzufriedenheit. Was mir an der Uni immer große Schmerzen bereitet hatte, war das Problem der Reichweite. Wenn ich mein Herzblut in ein Forschungsprojekt stecke und es am Ende nur 2-3 Leute interessiert, was haben meine Erkenntnisse dann für eine Bedeutung? Ich ertrage es nicht, Arbeit als sinnlos zu erleben, und die Uni empfand ich häufig als Massengrab intellektuellen Potenzials.
Wie wäre es, stattdessen Bücher zu schreiben, die tausende von Lesern erreichen, und zwar unabhängig von ihrem Bildungshintergrund? Soziologisches Wissen ist mächtig, und es kann durchaus unterhaltsam verpackt werden, etwa in Geschichten, die jedem einleuchten. So rechtfertigte ich mir damals meine Entscheidung, und so wurde statt einer Wissenschaftlerin eine Autorin aus mir. Mein Debüt „Sitzen vier Polen im Auto“ habe ich 2012 bei Ullstein veröffentlicht, „Minigolf Paradiso“ ist 2016 bei Rowohlt erschienen. Gerade arbeite ich an meinem dritten Buch.
Zum Podcasten kam ich erst 2012, als Gesprächspartnerin von Holger Klein in der Wrintheit. Seit 2013 produziere ich meinen eigenen Podcast „In trockenen Büchern“ und neuerdings zusammen mit Kathrin Rönicke den Podcast „Anekdotisch evident“. Beide haben zum Ziel, Wissen auf unterhaltsame und alltagsnahe Weise zu vermitteln.
Um mir meinen Lifestyle als Bohemien leisten zu können, jobbe ich in einer kleinen Buchhandlung. Ich liebe meine kreative Tätigkeit, aber Fakt ist, dass ich davon allein nicht leben kann. Und wie sehr ich die Einsamkeit schätze, die Voraussetzung meiner Arbeit ist, auf Dauer macht die Isolation matt und leer. Das waren lange Zeit Probleme, die mich stark belastet haben. Erst seit ich ein festes Einkommen und regelmäßigen Kontakt zur Außenwelt habe, kann ich meiner schöpferischen Tätigkeit ohne Gefahr für Leib und Seele nachgehen.
Je älter ich werde, umso lächerlicher erscheint mir das Konzept einer „Karriere“. Menschen verzichten auf wertvolle Lebenszeit, etwa aufs Lesen oder einen Vormittag in der Natur, um stattdessen viele Stunden in Schnellzügen und kargen Büroräumen zu verbringen. Sie trennen sich von ihren Partnern, ziehen in furchtbare Städte, setzen sich einem destruktiven Konkurrenzdruck aus, und alles nur, um die Träume anderer Leute zu verwirklichen oder sich selbst zu beweisen, dass sie bedeutsam sind.
Auch ich bin nicht frei von dem Wunsch nach Unverletzbarkeit und hätte auch manchmal gern einen erhöhten Platz, den mir niemand streitig machen kann. Aber sich mit anderen zu vergleichen ist selten eine gute Idee. Oft denke ich mir, was bist du für eine lausige Schriftstellerin, hast noch keinen dieser Integrationspreise bekommen, die man heute überall nachgeschmissen bekommt, nicht mal zur Stadtschreiberin von Castrop-Rauxel hast du’s gebracht. Dabei könntest du längst einen Doktortitel haben und Brille brauchen, junge Leute würden an deine Bürotür klopfen und dich mit duftendem Backwerk bestechen. Stattdessen stehst du an der Kasse und verkaufst „Darm mit Charme“!? Loser!!!
Aber dann mache ich mir klar, dass diese Gedanken nicht meine sind. Sie kommen von außen und haben nichts mit meinem eigenen Erleben zu tun. Ich genieße meine unterschiedlichen Tätigkeitsfelder enorm, zumal sie sich gegenseitig befruchten. Außerdem durfte ich schnell lernen, dass Anerkennung etwas anderes ist als die Ehrfurcht des kleinen Mannes vor einem akademischen Titel. Wenn etwa ein Zehnjähriger, nachdem er meine Lesung besucht hat, plötzlich anfängt Bücher zu lesen und mir wenig später seine erste selbst geschriebene Geschichte zeigt, dann spüre ich großes Glück und tiefe Erfüllung, und dann weiß ich, dass mein Tun sinnvoll ist und der gewundene Weg, den ich gegangen bin, der richtige für mich war.
Ein richtig guter Tag sieht so aus, dass ich gleichzeitig die Augen und den Laptop aufschlage und sofort anfange zu tippen. Wenn ich am Buch arbeite, fange ich mit einer Fragestellung an, auf die ich gerade Lust habe, z.B. „Welchen wilden Fummel trägt wohl Charakter XY im Jahre 1992?“ Karottenjeans mit aufgesprühten Bärchen fallen mir ein, dann kommen weitere Assoziationen hinzu, Erinnerungen verknüpfen sich mit Phantasien, manchmal bilden sich dabei schon Ansätze von Geschichten heraus, manchmal höre ich die Figuren sprechen, und das alles, so formlos wie es aus dem Kopf heraus schäumt, schreibe ich einfach auf, ohne auch nur einen druckreifen Satz dabei zu produzieren.
Einen Roman zu schreiben ist wie ein Puzzle mit tausend Teilen zusammenzulegen, wobei man die Puzzleteile erst mal selbst herstellen muss. Wenn ich keine Ideen habe, recherchiere ich ein Thema, das für den Roman relevant sein könnte. „Richtiges“ Schreiben, also das Aneinanderreihen von Sätzen, das Zusammenfügen zu Sinnabschnitten und Kapiteln, das kommt ganz am Schluss, wenn ich alle Puzzleteile beisammen habe. Diese Arbeiten erledige ich vormittags, wenn der Kopf noch frisch und die Energie da ist, nachmittags bin ich in der Buchhandlung.
In meiner Freizeit bereite ich mich auf meine Podcasts vor, was sich nicht groß von der Vorbereitung eines Referats oder einer Seminararbeit an der Uni unterscheidet. Mein Alltag ist also ein einziges Recherchieren, Sammeln und Verarbeiten von Informationen und mir gefällt absolut alles daran.
Das Herzstück meiner Arbeit als Autorin sind aber die Lesungen. Der direkte Kontakt zu den Lesern, insbesondere zu Kindern und Jugendlichen, ist für mich sehr wertvoll und unverzichtbar. Pro Monat mache ich ein bis zwei Lesungen, die mich durch ganz Deutschland und manchmal auch ins Ausland führen.
Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig Soziologie für mein Schreiben ist. Theorien, aber auch qualitative Studien schärfen meinen Blick für das, was erzählenswert ist. Sie liefern mir Themen, sie machen mich auf Konfliktpotenziale aufmerksam (und Geschichten leben von Konflikten), sie fächern mir soziale Phänomene mit allen ihren Facetten und Nuancen auf.
Ich habe es sogar zu meiner Schreibtechnik gemacht, Geschichten zu entwickeln, indem ich die abstrakte Theorie in fiktives Leben, also Handlung und Dialog, übersetze. Zum Beispiel erzähle ich in „Sitzen vier Polen im Auto“ von der spannungsreichen Begegnung des Migrantenmädchens Ola mit einer bildungsbürgerlichen Göre. Dank der Kulturtheorie von Pierre Bourdieu wusste ich, dass ich die Wohnungseinrichtung der Bildungsbürger beschreiben und sie dem Billig-Kinderzimmer von Ola gegenüberstellen muss. Dass es eine Rolle spielt, welche Art von Kunst an den Wänden hängt, ob es im Haushalt Bücher gibt und ob sie gelesen werden oder nur Belesenheit repräsentieren sollen. Die Theorie war wie eine Superbrille, die vor meinem inneren Auge alles schärfer in Erscheinung treten ließ.
Natürlich merkt der Leser am Ende nichts von meiner Beschäftigung mit den Theorien, trotzdem hat er einen Teil davon als Einsichten mitgenommen. Es ist mir ein großes Anliegen, mit meinen Büchern Empathie für “die Anderen” zu wecken. Und kein Hilfsmittel hat mir dabei bessere Dienste erwiesen als die Soziologie.
Die Auswanderung meiner Familie war ein sehr prägendes und folgenreiches Ereignis, das mich auf eine spezielle Weise beschädigt hat. Als Kind hatte ich das Trauma des plötzlichen und totalen Selbstwertverlusts erlitten, als Jugendliche war ich in den Widersprüchen gefangen, die das Leben in zwei Welten mit sich brachte. Die Tugenden und Ideale der einen waren die Laster und das Unerwünschte der anderen.
Wofür ich in der einen Welt gelobt wurde, dafür wurde ich in der anderen bestraft. Das blieb nicht ohne Folgen. Ich habe viele Jahre versucht, mich selbst mit Hilfe von psychologischen Ratgebern zu heilen, z.B. meine Schüchternheit, die ich für einen angeborenen psychischen Defekt hielt.
Als ich die Soziologie entdeckte, war das wie eine Offenbarung. Sie gab mir Begriffe an die Hand, mit denen ich meine Erfahrung endlich beschreiben und einordnen konnte, und sie erzählte mir eine komplett andere Geschichte als die, dass ich bloß Opfer einer unmöglichen Familie und eines zurückgebliebenen Landes war. Das Bild wurde differenzierter, der Umgang mit der eigenen Geschichte endlich von Wut und Scham befreit. Es ist also durchaus kein Zufall, dass ich ausgerechnet dieses Fach studiert habe.
Ich empfehle die Lektüre von “Down to Earth Sociology”, herausgegeben von James M. Henslin. Das ist ein englischsprachiger Reader, der eine große Bandbreite soziologischer Artikel versammelt, sowohl Klassiker als auch neuere Texte zu aktuellen Themen. Wen diese (oder auch nur ein paar wenige) Texte nicht mehr loslassen, der sie mit Spannung liest, wie einen Krimi, sollte unbedingt Soziologie studieren. Wen sie langweilen, sollte es lassen. Die 20 Euro sind auf jeden Fall gut investiert.
Vielen Dank für das Gespräch!
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