Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeite ich seit 2015 als Requirements Engineer bei einem IT-Dienstleister und bin damit für die Erhebung von Anforderungen zuständig. Parallel zum Job schließe ich gerade meine Promotion ab.
Ich schwankte damals zwischen einem Informatik Studium oder einem Studium der Gesellschaftswissenschaften. Ich habe mich letztlich aufgrund der Vielfalt des Faches und meinem Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge für ein Studium der Soziologie entschieden.
Durch ein Seminar bin ich dann mit der Techniksoziologie in Berührung gekommen. Für mich war das damals der ideale Weg, um meine Technikbegeisterung und meine Begeisterung für die Soziologie zu kombinieren. Man muss dazu sagen, dass ich von Techniksoziologie vor meinem Studium noch nie etwas gehört hatte - die Begegnung mit diesem Spezialgebiet mich und meinen Werdegang aber nachhaltig geprägt hat.
Nach meinem Studium an der Universität Duisburg-Essen wurde ich wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem DFG-Projekt, in dem es um die Rolle von Szenarien für die Technikentwicklung ging. Ich habe in diesem Projekt auch mit meiner Promotion begonnen, die ich gerade nebenberuflich beende. Bei meiner Bewerbung auf meine jetzige Stelle als Anforderungsingenieur haben sich die Ausrichtung auf die Techniksoziologie und meine Projekterfahrung als sehr hilfreich erwiesen.
Nach dieser Zeit an der Universität wollte ich gern in die Wirtschaft wechseln und hatte durch ein anderes Forschungsprojekt Kontakte zur adesso AG, einem IT-Dienstleister. Ich habe mich dort initiativ als Anforderungsingenieur (Requirements Engineer) beworben und bin sofort eingestellt worden. Nach zwei Jahren bin ich in eine Tochter des Unternehmens gewechselt (adesso insurance solutions GmbH), um mich stärker mit der Gestaltung von Softwareprodukten zu beschäftigen.
Nein, überhaupt nicht. Allerdings haben wir uns in unserem Forschungsprojekt mit der Rolle von Szenarien für die Technikentwicklung beschäftigt. Dabei ging es unter anderem darum, ob narrative Szenarien, zum Beispiel in Form von Kurzgeschichten, dazu genutzt werden können, um Anforderungen zu generieren. Das Thema war damit an das Berufsbild zumindest anschlussfähig. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich mit den Aufgaben eines Anforderungsingenieurs erst vertraut machen musste.
Da ich ein klassischer Quereinsteiger bin, konnte mich mein Studium nur bedingt auf den Job vorbereiten. Ein Studium der Soziologie vermittelt aber einige grundsätzliche Fähigkeiten, die in vielen Berufen nützlich sind und dort auch bisher schlichtweg zu kurz kommen.
Auf methodischer Seite haben mich insbesondere qualitative Methoden auf meine heutige Tätigkeit vorbereitet. Das strukturierte Erheben von Anforderungen unterscheidet sich in vielen Facetten kaum von qualitativen Forschungsdesigns. Allerdings ist die Methodik in der IT weniger ausgeprägt. Das Wissen um Erhebungs- und Auswertungstechniken von Interviews oder Gruppendiskussionen ist ein großes Plus, dass man als Soziologe bzw. Soziologin mitbringt.
Des Weiteren hat sich das kritische und analytische Denken sowie die Fähigkeit große Textmengen bewältigen zu können in der Praxis als Anforderungsingenieur*in als nützlich erwiesen. Da man nicht nur aufschreibt, was einem das Gegenüber sagt, sondern eine Filter- und Übersetzungsfunktion einnimmt, sind das analytische Prüfen und kritische Hinterfragen von Aussagen ein absolutes Muss. Hinzu kommt, dass Spezifikationen, das Endprodukt eines Anforderungsingenieurs, relativ umfangreich werden können. Es schadet also nicht, mit großen Textmengen umgehen zu können. Auch die Fähigkeit “lesbar” schreiben zu können ist wichtig.
Der eigentlich wichtigste Punkt ist jedoch inhaltlicher Natur. Mit der Digitalisierung, dem Internet of Things und der Industrie 4.0 in aller Munde, wird auch vielen Akteuren in der IT klar, dass ihr Handeln nicht außerhalb von Gesellschaft stattfindet. Spätestens dort, wo IT alte Arbeitsprozesse transformiert und Mensch und Technik in Beruf und Alltag immer weniger voneinander zu trennen sind, ist eine soziologische Sicht auf die Dinge von immenser Bedeutung. Menschen als Schöpfer und Nutzer von Software geraten zunehmend in den Fokus. Ich glaube, es ist gerade eine ideale Zeit, um als Soziologe/Soziologin in der IT Fuß zu fassen und Technik und Gesellschaft mitzugestalten. Neue Perspektiven und die Fähigkeit über den Tellerrand zu schauen, sind gerade sehr gefragt.
Formale Hürden gab es eigentlich keine. Allerdings hat es mich schon sehr viel Zeit und Engagement gekostet, um mich mit den Methoden des Requirements Engineering vertraut zu machen, die eingesetzten Tools zu erlernen und mich natürlich der Sprache und Kultur in der IT anzupassen. Aber insbesondere in diesem letzten Aspekt sind Soziologen ja häufig besonders gut. Zusätzliche Zertifizierungen habe ich ebenfalls gemacht, weil auch viele Kunden darauf wertlegen. In meinem Fall hat die Kosten dafür mein Arbeitgeber übernommen.
Software erfüllt für einen definierten Kreis an Nutzern immer einen Zweck. Die Aufgabe des Requirements Engineers liegt darin die Anforderungen der Nutzer an die Software zu erheben.
Darüber hinaus können natürlich auch andere technische Systeme oder gesetzliche Bestimmungen zu Anforderungen an ein System führen (z.B. beim Thema Datenschutz). Diese Anforderungen müssen aufgenommen und strukturiert erfasst werden, damit im Nachgang die Softwareentwickler eine Art “Bauanleitung” für das zu konstruierende System haben.
Man unterschätzt häufig, wie umfangreich die Anforderungen an ein Softwaresystem sein können. Mehrere hundert oder sogar tausend Seiten Spezifikation können es bei umfangreichen Projekten schon werden. Hier den Überblick zu bewahren ist eine große Herausforderung.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass das Erheben von Anforderungen nicht trivial ist. Gesetzestexte zum Beispiel scheinen auf den ersten Blick ideal zu sein, um diese in Anforderungen zu übersetzen. Wie man rechtliche Anforderungen aber letztlich in einer Software abbildet, kann ziemlich komplex sein.
Das Erfassen von Anforderungen bei den zukünftigen Nutzern ist ebenfalls ein komplexer Prozess. Häufig sind Menschen durch Altsysteme vorgeprägt oder moderne technische Möglichkeiten sind unbekannt. Wer aufschreibt, was einem gesagt wird, der stellt irgendwann fest, dass er ein Altsystem aus den 1980er Jahren nachbaut. Die Bedürfnisse der Nutzer an die Software aufzunehmen und gleichzeitig die technischen Möglichkeiten und Restriktionen im Auge zu behalten, ist eine der zentralen Leistungen von Anforderungsingenieuren.
Typischerweise ist man in einem Projekt unterwegs und bekommt einen kleinen Teil des Systems (Feature) als Arbeitspaket zugewiesen. Man versucht in einem ersten Schritt herauszufinden, was dieses Arbeitspaket alles umfasst und wo die Grenzen gezogen werden müssen. Es ist aber durchaus möglich, dass sich diese Grenzen im späteren Verlauf noch mal verschieben.
Dann tritt man zum Beispiel mit dem Kunden in Kontakt und versucht die Anforderungen der Nutzer zu erheben. Das kann durch Interviews oder in Workshops geschehen. Man versucht herauszufinden, was die Nutzer mit diesem Feature in ihrem Arbeitsalltag erreichen wollen, welche Vorzüge oder Probleme ein eventuell bereits vorhandenes System hat und man versucht zu ergründen, wer eventuell noch Nutzer des Systems sein könnte bzw. wer noch Einfluss auf die Anforderungen haben kann.
Häufig kommunizieren Softwaresysteme noch mit weiteren technischen Komponenten, es gibt rechtliche Rahmenbedingungen oder es gibt noch eine Nutzergruppe, die man in der ursprünglichen Planung übersehen hat. Sukzessive versucht man die Anforderungen nun in Teilschritte herunterzubrechen und als Ziele, Aufgaben oder Funktionen in der Spezifikation zu erfassen. Solche Features können sehr klein oder sehr groß sein. Am Ende werden sie durch den Kunden abgenommen und dann durch die Softwareentwickler umgesetzt.
Das ist tatsächlich eine ziemliche Herausforderung - nicht nur an mich selbst. Ich habe nach meinem Wechsel meine Dissertation etwas über ein halbes Jahr liegen lassen, um mich auf das neue Umfeld einzustellen. Danach habe ich wieder angefangen regelmäßig daran zu arbeiten. Ich habe mir angewöhnt unterhalb der Woche nach der Arbeit noch immer ein wenig zu schreiben und dafür am Wochenende länger daran zu arbeiten.
Funktionieren kann das in einer Beziehung nur, wenn der Partner bzw. die Partnerin einen unterstützt und den Rücken freihält. Zum Glück habe ich auch einen fantastischen Arbeitgeber, der von sich aus eine Stellenreduktion angeboten hat. Ich arbeite bis Ende dieses Jahres nur drei Tage die Woche, um mich vier Tage lang auf das Fertigstellen der Doktorarbeit konzentrieren zu können.
Des Weiteren braucht man einen Betreuer, der sich Zeit nimmt und um die Herausforderungen einer nebenberuflichen Promotion weiß. Ich habe da insgesamt sehr viel Glück gehabt und gute Unterstützung von vielen Seiten.
Vielen Dank für das Gespräch!
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